„Möchtest du auch eine Tasse?“ fragte sie, während sie die Teekanne auf dem Couchtisch absetzte und zum Geschirrschrank ging. Irritiert durch sein Schweigen wandte sie sich um und schaute ihn an. Leicht vornüber gebeugt saß er im Sessel, den Blick gedankenverloren auf einen imaginären Punkt an der Wand gerichtet.
Sie wiederholte ihre Frage und wertete sein leises undeutliches „hmm“ als ein Ja. Nachdem sie die Tassen auf den Tisch gestellt hatte, steckte sie in jede ein Stäbchen mit Kandiszuckerkristallen und goss aromatisch duftenden Tee ein.„Was ist mit dir?“ fragte sie, während sie sich bequem auf dem Sofa zurücklehnte und einen kleinen vorsichtigen Schluck aus der Teetasse nahm. Er schreckte auf, „Wie?“ und schaute sie ein wenig verwirrt an. „Wo bist du mit deinen Gedanken?“ sagte sie leise und mit einem besorgten Unterton. Er hob seine Teetasse, hielt sie dicht vor den Mund, um ein wenig auf die heiße Flüssigkeit zu blasen und antwortete dann: „Verzeih bitte, Liebes, aber etwas lässt mir gerade keine Ruhe.“
Er rührte ein paar mal mit dem Stäbchen durch den Tee, trank einen Schluck und fuhr fort: „Du weißt ja, dass ich kürzlich ein Treffen besucht habe, von dieser „Kirche der Gottlosen“ und das beschäftigt mich nun seit Tagen immer wieder.“
„Ach, das war an dem Sonntagnachmittag, als ich mit meiner Freundin auf dem Weihnachtsmarkt war.“ unterbrach sie ihn, „Du hast das erwähnt, bist aber nicht weiter darauf eingegangen. Erzähl doch mal, was hat dich den dort so beeindruckt?“
Er räusperte sich, trank noch einen Schluck aus seiner Teetasse, setzte sie ab und begann zu erzählen:
„Ach weißt du, diese „Kirche“ hat mich nicht sonderlich beeindruckt, sie war wie jede Kirche, nur eben ohne Gott. Mit Ritualen, einem festen liturgischen Ablauf, Liedern und einer „Predigt“, oder besser gesagt einem Vortrag. Die Christen glauben daran, dass es Gott gibt und diese Atheisten glauben, dass es ihn nicht gibt. Beide suchen das Gemeinschaftsgefühl und die gegenseitige Stärkung ihres Glaubens. Die einen beziehen sich auf Gott, die anderen auf die Philosophie, die Ethik, oder was immer du nehmen willst. Beiden gemeinsam ist offensichtlich das Bedürfnis, sich auszutauschen und die Bestätigung ihres Glaubens oder auch Nichtglaubens, ganz wie du willst, durch Gleichdenkende zu erfahren. Was mich mehr bewegt hat, war der Vortrag, der von dem britischen Philosophen und Buchautor Stephen Cave gehalten wurde.“ Er schwieg einen Moment nachdenklich.
„Was hat er denn so Wichtiges gesagt?“ fragte sie und er fuhr fort:
„Er sprach davon, dass der Mensch aus dem Nichts kommt und wieder ins Nichts gehen wird: 'Ich will kein Panikmacher sein,' waren seine Worte, 'aber: Wir werden alle sterben.' Jeder werde früher oder später 'Futter für die Regenwürmer' sein. Was also tun? 'Erst sind alle agnostisch, aber sobald man sie mit dem Tod konfrontiert, rennen sie zu Jesus.' Aus Angst vor der eigenen Sterblichkeit habe der Mensch Erzählungen entwickelt, die den Tod leugnen. Cave kann der Hoffnung auf Auferstehung und ewiges Leben nichts abgewinnen: 'Wenn ihr glaubt, dass das echte Leben erst nach dem Tod anfängt, werdet ihr dieses Leben nicht zu schätzen wissen.' so hat er den Leuten eindringlich gesagt.“
Er schaute seine Frau nachdenklich an und schloss dann für einen Moment die Augen. Seine Frau warf ihm einen fragenden Blick zu und wartete dann geduldig darauf, dass er weitererzählen würde. Nach einer Weile des Schweigens stand sie auf um einen Aschenbecher und ein Päckchen Zigaretten zu holen. Das Klicken des Feuerzeugs riss ihn aus seinen Gedanken und mit einem dankbaren Lächeln nahm er die brennende Zigarette, die sie ihm hinhielt. Während sie eine weitere Zigarette aus dem Päckchen nahm und anzündete sprach er zögernd weiter: "Weißt du Liebes, Cave bezog sich dann auf den Mathematiker und Philosophen Bertrand Russel, der empfahl, das eigene Leben wie ein Buch zu sehen, begrenzt durch zwei Buchdeckel, also durch Geburt und Tod. Es komme darauf an, die Seiten dazwischen mit Abenteuern zu füllen. Es sei egal, ob das eigene Leben ein dicker Wälzer oder eine dünne Novelle sei, 'Was zählt ist, dass es eine gute Geschichte ist.' Das Problem mit dem Tod erledige sich dabei von selbst, denn die Charaktere in dem Buch haben keine Angst vor den letzten Seiten.“
Sie nickte und sagte lächelnd: „ So ganz ist das ja nicht von der Hand zu weisen, oder?“ Er schüttelte heftig den Kopf: „Sag das nicht, mich hat erschüttert, dass so kluge, gebildete Menschen ein solch plattes Beispiel von sich geben können und das auch noch in ein Buch schreiben. Natürlich klingt es witzig und einleuchtend, wenn ich sage, dass die Charaktere in einem Buch keine Angst vor den letzten Seiten haben und es deshalb egal sei, ob es eine kurze oder lange Geschichte, ein dickes oder eher ein schmales Buch sei, aber wir sind ja eben keine Charaktere, die der Phantasie eines Autors entsprungen sind, sondern lebendige Menschen und die „Geschichte“, das ist unser Leben und mir, mein Liebes, mir ist es ganz und gar nicht egal, ob es eine lange oder eine ganz kurze Geschichte ist.“
Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, griff nach dem Päckchen und zündete sich, von einem Stirnrunzeln seine Frau begleitet, eine weitere Zigarette an. Nach einem tiefen Zug sprach er heftig, ja, fast ärgerlich weiter: „ Dieser Cave hat dann noch zwei weitere Kronzeugen angeführt, beide auch berühmte Philosophen. Zum einen Epikur, den griechischen Philosophen, der sagte, -Der Tod geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.- und dann noch Ludwig Wittgenstein mit der Aussage -Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.- und diese beiden Aussagen, die haben mich mächtig geärgert. Ich verstehe nicht, wie zwei so außerordentliche Denker, solch außerordentlich dumme Aussagen machen konnten.“
Sie grinste ein wenig schief und neckte dann:“Aber nun nimmst du dich ja der Sache an und wirst das gerade rücken, nehme ich an. Wieso glaubst du, mein kleiner, kluger Liebling, dass diese berühmten Männer sich geirrt haben?“
Er grinste fröhlich zurück und entgegnete:“Du solltest dich doch so langsam daran gewöhnt haben, dass dein Mann ein Bescheidwisser ist. Aber ich will dir meine Gedanken gerne erklären. Wittgenstein mag formal vollkommen richtig liegen mit der Aussage, dass der Tod kein Ereignis des Lebens sei, das ist von solch einem disziplinierten Denker ja auch zu erwarten, aber trotzdem liegt er insofern sehr weit daneben, als die Lebenswirklichkeit eine vollkommen andere ist. Der Tod ist als mit absoluter Sicherheit eintreffendes Ereignis schon von Anfang an ein Bestandteil des Lebens, Philosophie hin oder her.
So wie Ausgangspunkt und Ziel ein unabdingbarer Bestandteil einer Autofahrt sind, so sind Geburt und Tod Ereignisse des Lebens, die absolut feststehen und die uns insofern sehr wohl etwas angehen. Wenn Epikur sagt, der Tod ginge uns nichts an, weil er nicht da ist, solange wir leben und wir nicht mehr leben, wenn er da ist, dann ist auch das nur eine formale Aussage, die jeder Wirklichkeit zuwider läuft. Wenn eines im Leben gewiss ist, dann ist es doch die Tatsache, dass es irgendwann mit dem Tod enden wird. Eine solche absolute Gewissheit auszuklammern, das ist in meinen Augen eine recht naive Art der Verdrängung eines Faktums. Zwar ist es richtig, dass der Tod nicht da ist, solange wir leben, aber daraus den Schluss zu ziehen, dass er uns nichts anginge, ist eher eines Pennälers, als eines Philosophen würdig.“
Er deutete mit dem Kopf auf das Stövchen mit der leicht flackernden Kerze und fragte: „Ist noch etwas Tee da? Dieser Rest hier ist mir mittlerweile zu kalt.“ Als seine Frau nickte, bat er: „Kannst du mir noch ein wenig nachschenken?“ und hielt ihr seine Tasse hin. Nach einem großen Schluck des frisch eingegossenen Tees, lehnte er sich zurück und dachte weiter laut nach: „Ich will mal ein ein Beispiel konstruieren. Stell dir vor, unser Leben ist ein großer Raum, in den wir bei unserer Geburt hineingesetzt werden. An einem Ende des Raumes befindet sich eine Tür, von der wir aber zunächst noch gar keine Notiz nehmen. Der Raum erscheint uns noch unendlich groß, es gibt soviel zu erleben, zu lernen, zu erreichen, dass wir der Tür in weiter Ferne keine Bedeutung beimessen, falls wir ihre Anwesenheit überhaupt bewusst zur Kenntnis nehmen. Eines ist allerdings sicher, wir bewegen uns, langsam zwar, aber doch unweigerlich und unabänderlich aus diese Tür, den Tod zu. Nun können wir vorsichtig und in gerader Linie, wie auf einem schmalen Pfad auf diese Tür zugehen, oder wir können die Breite dieses Raumes für uns entdecken, ihn in all seinen Möglichkeiten erkunden und nutzen. Das wäre dann für mich analog zu dem Gedanken Russels, die Wahl, ob es eine spannende, gute Geschichte wird, oder eine gleichmäßig, eher langweilig vor sich hinplätschernde.“
Er griff nach den Zigaretten, zündete sich eine weitere an und gab ihr Feuer, als sie ebenfalls eine Zigarette zwischen ihre Lippen schob. Nachdenklich blickte er auf die kleine, sich kräuselnde Rauchfahne, die vom Ende der Zigarette aufstieg.
„Schau,“ sagte er, „es ist so einfach. Diese Zigarette ist irgendwann, in absehbarer Zeit zu Ende geraucht, das ist Fakt. Wieso wohl, sollte mich das nichts angehen? Ich rauche sie lieber, als dass ich sie sinnlos verqualmen lasse. Mein Leben ist mit Sicherheit irgendwann zu Ende und das sollte mich doch wohl noch weit mehr angehen, oder? Wir durchschreiten diesen Raum, der unser Leben bedeutet in Richtung auf die Tür und zurückgehen können wir nicht. Je näher wir der Tür kommen umso deutlicher bemerken wir, dass der vor uns liegende Raum kleiner wird, ganz unausweichlich. Nun gibt es natürlich mehrere Möglichkeiten, mit dieser Tatsache umzugehen. Eine Möglichkeit wäre, unseren Blick auf diese Tür zu fixieren, unser Denken und Handeln, unser ganzes Leben nur noch von dem Gedanken an die Tür, die wir einmal durchschreiten müssen, bestimmen zu lassen. Diese Möglichkeit wäre, so denke ich, keine kluge Wahl, denn ich bin sicher, dass würde uns auf Dauer jede Freude verderben und uns der wunderschönen Leichtigkeit berauben, die das Leben mitunter für uns bereit hält. Eine andere Möglichkeit wäre, ganz im Sinne Epikurs zu sagen, dass es uns nichts angeht, solange wir noch leben. Beide Möglichkeiten halte ich für unklug, denn plötzlich steht man vor der Tür und dann muss sie durchschritten werden. Unweigerlich!“
Schweigend sahen die beiden sich an. „Und was wird dann sein?“ fragte sie leise. Er schüttelte den Kopf. „Das, Liebes, das wissen wir eben nicht. Wittgenstein hat sich ja intensiv mit der sprachlichen Möglichkeit befasst, den Begriff des „wissen“ in seinen verschiedenen Wertigkeiten zu erfassen, das ist ganz interessant. Nimm mal den Satz, ich habe zwei Hände. Durch das Anheben und Anschauen der Hände lässt sich leicht beweisen, dass dies behauptete „wissen“ durch ein Faktum untermauert ist, also als sicher gelten kann. Bei dem Satz, dass morgen um 8:00 Uhr der Bus kommen wird, stütze ich mich zwar auf eine, durch regelmäßige Wiederkehr des Ereignisses zu belegende Erfahrung, aber dies Wissen ist schon nicht mehr absolut sicher, der Bus könnte immerhin auch ausfallen oder verunglücken.
Unser Wissen über das, was nach dem Durchschreiten dieser Tür, also nach dem Tod sein wird, beruht jedoch nur auf Vermutungen, Spekulationen oder Glaubensinhalten. Sicher ist da gar nichts. Wenn wir aber schon sicher sind, dass unser Leben unbedingt enden wird und wir über das danach keine gesicherten Erkenntnisse haben, wäre es dann nicht viel klüger, den Tod nicht auszuklammern, sondern als feststehendes kommendes Ereignis unseres Lebens in unsere Lebensgestaltung mit einzubeziehen? Wenn ich schon nichts über das „danach“ wissen kann, dann will ich doch wenigstens bei dem „davor“ meine Lebensplanung, meine Ziele und meine Prioritäten danach ausrichten, dass an dieser Tür alles endet.“
„Und wenn es nun ein danach gibt“ fragte seine Frau leise, „und es gilt, sich darauf vorzubereiten und auch das in unsere Lebensgestaltung einzubeziehen?“
Er schwieg lange und sein Blick schien in die Ferne gerichtet, so als wolle er den imaginären Raum des Lebens auf seine Größe überprüfen.
„Ich denke, es ist wohl klug, auch diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.“ sagte er ein wenig unsicher. „Ich werde jedenfalls über diese Möglichkeit nachdenken. Das muss jeder für sich entscheiden, wie er mit diesem Gedanken umgeht. Sicher ist nur, dass wir irgendwann alle plötzlich vor dieser Tür stehen werden.“