Mittwoch, 17. Dezember 2014

Und plötzlich steht man vor der Tür

„Möchtest du auch eine Tasse?“ fragte sie, während sie die Teekanne auf dem Couchtisch absetzte und zum Geschirrschrank ging. Irritiert durch sein Schweigen wandte sie sich um und schaute ihn an. Leicht vornüber gebeugt saß er im Sessel, den Blick gedankenverloren auf einen imaginären Punkt an der Wand gerichtet. 

Sie wiederholte ihre Frage und wertete sein leises undeutliches „hmm“ als ein Ja. Nachdem sie die Tassen auf den Tisch gestellt hatte, steckte sie in jede ein Stäbchen mit Kandiszuckerkristallen und goss aromatisch duftenden Tee ein.„Was ist mit dir?“ fragte sie, während sie sich bequem auf dem Sofa zurücklehnte und einen kleinen vorsichtigen Schluck aus der Teetasse nahm. Er schreckte auf, „Wie?“ und schaute sie ein wenig verwirrt an. „Wo bist du mit deinen Gedanken?“ sagte sie leise und mit einem besorgten Unterton. Er hob seine Teetasse, hielt sie dicht vor den Mund, um ein wenig auf die heiße Flüssigkeit zu blasen und antwortete dann: „Verzeih bitte, Liebes, aber etwas lässt mir gerade keine Ruhe.“
Er rührte ein paar mal mit dem Stäbchen durch den Tee, trank einen Schluck und fuhr fort: „Du weißt ja, dass ich kürzlich ein Treffen besucht habe, von dieser „Kirche der Gottlosen“ und das beschäftigt mich nun seit Tagen immer wieder.“
„Ach, das war an dem Sonntagnachmittag, als ich mit meiner Freundin auf dem Weihnachtsmarkt war.“ unterbrach sie ihn, „Du hast das erwähnt, bist aber nicht weiter darauf eingegangen. Erzähl doch mal, was hat dich den dort so beeindruckt?“
Er räusperte sich, trank noch einen Schluck aus seiner Teetasse, setzte sie ab und begann zu erzählen:
„Ach weißt du, diese „Kirche“ hat mich nicht sonderlich beeindruckt, sie war wie jede Kirche, nur eben ohne Gott. Mit Ritualen, einem festen liturgischen Ablauf, Liedern und einer „Predigt“, oder besser gesagt einem Vortrag. Die Christen glauben daran, dass es Gott gibt und diese Atheisten glauben, dass es ihn nicht gibt. Beide suchen das Gemeinschaftsgefühl und die gegenseitige Stärkung ihres Glaubens. Die einen beziehen sich auf Gott, die anderen auf die Philosophie, die Ethik, oder was immer du nehmen willst. Beiden gemeinsam ist offensichtlich das Bedürfnis, sich auszutauschen und die Bestätigung ihres Glaubens oder auch Nichtglaubens, ganz wie du willst, durch Gleichdenkende zu erfahren. Was mich mehr bewegt hat, war der Vortrag, der von dem britischen Philosophen und Buchautor Stephen Cave gehalten wurde.“ Er schwieg einen Moment nachdenklich.
„Was hat er denn so Wichtiges gesagt?“ fragte sie und er fuhr fort:
„Er sprach davon, dass der Mensch aus dem Nichts kommt und wieder ins Nichts gehen wird: 'Ich will kein Panikmacher sein,' waren seine Worte, 'aber: Wir werden alle sterben.' Jeder werde früher oder später 'Futter für die Regenwürmer' sein. Was also tun? 'Erst sind alle agnostisch, aber sobald man sie mit dem Tod konfrontiert, rennen sie zu Jesus.' Aus Angst vor der eigenen Sterblichkeit habe der Mensch Erzählungen entwickelt, die den Tod leugnen. Cave kann der Hoffnung auf Auferstehung und ewiges Leben nichts abgewinnen: 'Wenn ihr glaubt, dass das echte Leben erst nach dem Tod anfängt, werdet ihr dieses Leben nicht zu schätzen wissen.' so hat er den Leuten eindringlich gesagt.“
Er schaute seine Frau nachdenklich an und schloss dann für einen Moment die Augen. Seine Frau warf ihm einen fragenden Blick zu und wartete dann geduldig darauf, dass er weitererzählen würde. Nach einer Weile des Schweigens stand sie auf um einen Aschenbecher und ein Päckchen Zigaretten zu holen. Das Klicken des Feuerzeugs riss ihn aus seinen Gedanken und mit einem dankbaren Lächeln nahm er die brennende Zigarette, die sie ihm hinhielt. Während sie eine weitere Zigarette aus dem Päckchen nahm und anzündete sprach er zögernd weiter: "Weißt du Liebes, Cave bezog sich dann auf den Mathematiker und Philosophen Bertrand Russel, der empfahl, das eigene Leben wie ein Buch zu sehen, begrenzt durch zwei Buchdeckel, also durch Geburt und Tod. Es komme darauf an, die Seiten dazwischen mit Abenteuern zu füllen. Es sei egal, ob das eigene Leben ein dicker Wälzer oder eine dünne Novelle sei, 'Was zählt ist, dass es eine gute Geschichte ist.' Das Problem mit dem Tod erledige sich dabei von selbst, denn die Charaktere in dem Buch haben keine Angst vor den letzten Seiten.“
Sie nickte und sagte lächelnd: „ So ganz ist das ja nicht von der Hand zu weisen, oder?“ Er schüttelte heftig den Kopf: „Sag das nicht, mich hat erschüttert, dass so kluge, gebildete Menschen ein solch plattes Beispiel von sich geben können und das auch noch in ein Buch schreiben. Natürlich klingt es witzig und einleuchtend, wenn ich sage, dass die Charaktere in einem Buch keine Angst vor den letzten Seiten haben und es deshalb egal sei, ob es eine kurze oder lange Geschichte, ein dickes oder eher ein schmales Buch sei, aber wir sind ja eben keine Charaktere, die der Phantasie eines Autors entsprungen sind, sondern lebendige Menschen und die „Geschichte“, das ist unser Leben und mir, mein Liebes, mir ist es ganz und gar nicht egal, ob es eine lange oder eine ganz kurze Geschichte ist.“
Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, griff nach dem Päckchen und zündete sich, von einem Stirnrunzeln seine Frau begleitet, eine weitere Zigarette an. Nach einem tiefen Zug sprach er heftig, ja, fast ärgerlich weiter: „ Dieser Cave hat dann noch zwei weitere Kronzeugen angeführt, beide auch berühmte Philosophen. Zum einen Epikur, den griechischen Philosophen, der sagte, -Der Tod geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.- und dann noch Ludwig Wittgenstein mit der Aussage -Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.- und diese beiden Aussagen, die haben mich mächtig geärgert. Ich verstehe nicht, wie zwei so außerordentliche Denker, solch außerordentlich dumme Aussagen machen konnten.“
Sie grinste ein wenig schief und neckte dann:“Aber nun nimmst du dich ja der Sache an und wirst das gerade rücken, nehme ich an. Wieso glaubst du, mein kleiner, kluger Liebling, dass diese berühmten Männer sich geirrt haben?“
Er grinste fröhlich zurück und entgegnete:“Du solltest dich doch so langsam daran gewöhnt haben, dass dein Mann ein Bescheidwisser ist. Aber ich will dir meine Gedanken gerne erklären. Wittgenstein mag formal vollkommen richtig liegen mit der Aussage, dass der Tod kein Ereignis des Lebens sei, das ist von solch einem disziplinierten Denker ja auch zu erwarten, aber trotzdem liegt er insofern sehr weit daneben, als die Lebenswirklichkeit eine vollkommen andere ist. Der Tod ist als mit absoluter Sicherheit eintreffendes Ereignis schon von Anfang an ein Bestandteil des Lebens, Philosophie hin oder her.
So wie Ausgangspunkt und Ziel ein unabdingbarer Bestandteil einer Autofahrt sind, so sind Geburt und Tod Ereignisse des Lebens, die absolut feststehen und die uns insofern sehr wohl etwas angehen. Wenn Epikur sagt, der Tod ginge uns nichts an, weil er nicht da ist, solange wir leben und wir nicht mehr leben, wenn er da ist, dann ist auch das nur eine formale Aussage, die jeder Wirklichkeit zuwider läuft. Wenn eines im Leben gewiss ist, dann ist es doch die Tatsache, dass es irgendwann mit dem Tod enden wird. Eine solche absolute Gewissheit auszuklammern, das ist in meinen Augen eine recht naive Art der Verdrängung eines Faktums. Zwar ist es richtig, dass der Tod nicht da ist, solange wir leben, aber daraus den Schluss zu ziehen, dass er uns nichts anginge, ist eher eines Pennälers, als eines Philosophen würdig.“
Er deutete mit dem Kopf auf das Stövchen mit der leicht flackernden Kerze und fragte: „Ist noch etwas Tee da? Dieser Rest hier ist mir mittlerweile zu kalt.“ Als seine Frau nickte, bat er: „Kannst du mir noch ein wenig nachschenken?“ und hielt ihr seine Tasse hin. Nach einem großen Schluck des frisch eingegossenen Tees, lehnte er sich zurück und dachte weiter laut nach: „Ich will mal ein ein Beispiel konstruieren. Stell dir vor, unser Leben ist ein großer Raum, in den wir bei unserer Geburt hineingesetzt werden. An einem Ende des Raumes befindet sich eine Tür, von der wir aber zunächst noch gar keine Notiz nehmen. Der Raum erscheint uns noch unendlich groß, es gibt soviel zu erleben, zu lernen, zu erreichen, dass wir der Tür in weiter Ferne keine Bedeutung beimessen, falls wir ihre Anwesenheit überhaupt bewusst zur Kenntnis nehmen. Eines ist allerdings sicher, wir bewegen uns, langsam zwar, aber doch unweigerlich und unabänderlich aus diese Tür, den Tod zu. Nun können wir vorsichtig und in gerader Linie, wie auf einem schmalen Pfad auf diese Tür zugehen, oder wir können die Breite dieses Raumes für uns entdecken, ihn in all seinen Möglichkeiten erkunden und nutzen. Das wäre dann für mich analog zu dem Gedanken Russels, die Wahl, ob es eine spannende, gute Geschichte wird, oder eine gleichmäßig, eher langweilig vor sich hinplätschernde.“
Er griff nach den Zigaretten, zündete sich eine weitere an und gab ihr Feuer, als sie ebenfalls eine Zigarette zwischen ihre Lippen schob. Nachdenklich blickte er auf die kleine, sich kräuselnde Rauchfahne, die vom Ende der Zigarette aufstieg.
„Schau,“ sagte er, „es ist so einfach. Diese Zigarette ist irgendwann, in absehbarer Zeit zu Ende geraucht, das ist Fakt. Wieso wohl, sollte mich das nichts angehen? Ich rauche sie lieber, als dass ich sie sinnlos verqualmen lasse. Mein Leben ist mit Sicherheit irgendwann zu Ende und das sollte mich doch wohl noch weit mehr angehen, oder? Wir durchschreiten diesen Raum, der unser Leben bedeutet in Richtung auf die Tür und zurückgehen können wir nicht. Je näher wir der Tür kommen umso deutlicher bemerken wir, dass der vor uns liegende Raum kleiner wird, ganz unausweichlich. Nun gibt es natürlich mehrere Möglichkeiten, mit dieser Tatsache umzugehen. Eine Möglichkeit wäre, unseren Blick auf diese Tür zu fixieren, unser Denken und Handeln, unser ganzes Leben nur noch von dem Gedanken an die Tür, die wir einmal durchschreiten müssen, bestimmen zu lassen. Diese Möglichkeit wäre, so denke ich, keine kluge Wahl, denn ich bin sicher, dass würde uns auf Dauer jede Freude verderben und uns der wunderschönen Leichtigkeit berauben, die das Leben mitunter für uns bereit hält. Eine andere Möglichkeit wäre, ganz im Sinne Epikurs zu sagen, dass es uns nichts angeht, solange wir noch leben. Beide Möglichkeiten halte ich für unklug, denn plötzlich steht man vor der Tür und dann muss sie durchschritten werden. Unweigerlich!“
Schweigend sahen die beiden sich an. „Und was wird dann sein?“ fragte sie leise. Er schüttelte den Kopf. „Das, Liebes, das wissen wir eben nicht. Wittgenstein hat sich ja intensiv mit der sprachlichen Möglichkeit befasst, den Begriff des „wissen“ in seinen verschiedenen Wertigkeiten zu erfassen, das ist ganz interessant. Nimm mal den Satz, ich habe zwei Hände. Durch das Anheben und Anschauen der Hände lässt sich leicht beweisen, dass dies behauptete „wissen“ durch ein Faktum untermauert ist, also als sicher gelten kann. Bei dem Satz, dass morgen um 8:00 Uhr der Bus kommen wird, stütze ich mich zwar auf eine, durch regelmäßige Wiederkehr des Ereignisses zu belegende Erfahrung, aber dies Wissen ist schon nicht mehr absolut sicher, der Bus könnte immerhin auch ausfallen oder verunglücken.
Unser Wissen über das, was nach dem Durchschreiten dieser Tür, also nach dem Tod sein wird, beruht jedoch nur auf Vermutungen, Spekulationen oder Glaubensinhalten. Sicher ist da gar nichts. Wenn wir aber schon sicher sind, dass unser Leben unbedingt enden wird und wir über das danach keine gesicherten Erkenntnisse haben, wäre es dann nicht viel klüger, den Tod nicht auszuklammern, sondern als feststehendes kommendes Ereignis unseres Lebens in unsere Lebensgestaltung mit einzubeziehen? Wenn ich schon nichts über das „danach“ wissen kann, dann will ich doch wenigstens bei dem „davor“ meine Lebensplanung, meine Ziele und meine Prioritäten danach ausrichten, dass an dieser Tür alles endet.“
„Und wenn es nun ein danach gibt“ fragte seine Frau leise, „und es gilt, sich darauf vorzubereiten und auch das in unsere Lebensgestaltung einzubeziehen?“
Er schwieg lange und sein Blick schien in die Ferne gerichtet, so als wolle er den imaginären Raum des Lebens auf seine Größe überprüfen.
„Ich denke, es ist wohl klug, auch diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.“ sagte er ein wenig unsicher. „Ich werde jedenfalls über diese Möglichkeit nachdenken. Das muss jeder für sich entscheiden, wie er mit diesem Gedanken umgeht. Sicher ist nur, dass wir irgendwann alle plötzlich vor dieser Tür stehen werden.“

Samstag, 6. Dezember 2014

Dennoch! (an meinen Freund)

Nun feiern wir schon bald wieder Weihnachten und wer es bisher noch nicht bemerkt hat, dem wird spätestens jetzt klar, dass wieder ein Jahr vergangen ist. Nahtlos reiht sich eines an das andere und die Zahl der verbleibenden Jahre wird immer überschaubarer. Seit vielen Jahren sind wir jetzt beste Freunde, haben viel miteinander erlebt, manches überstanden und dabei immer zueinander gestanden. Da du ja fast zwanzig Jahre jünger bist als ich, kam mir nun der Gedanke, dir diesen Wunsch anzuvertrauen.
Eines Tages – und dieser Tag kommt gewiss – werdet ihr alle beieinander sitzen, Kinder, Enkel, Verwandte, gute und weniger gute Freunde und vielleicht sogar ein paar Nachbarn. Bei Kaffee und Streuselkuchen, wie das eben so ist.
Bei der zweiten Tasse Kaffee werden die ersten schwarzen Krawatten gelockert, ein paar dunkle Jacketts ausgezogen und über die Stuhllehne gehängt, Manschettenknöpfe geöffnet und Ärmel hochgerollt, je nachdem, in welcher Jahreszeit das sein wird. Gesichtszüge entspannen sich, Mienen werden freundlicher und die ersten „weißt du noch?“ werden zu hören sein.
Ich erinnere mich noch genau...
Ja, dass weiß ich auch noch...
Wisst ihr noch, wie wir damals...
Egal, wie alt einer wird, werden die Klugen sagen, es ist ja doch immer zu früh. Nun ja, werden noch Klügere antworten, manchmal ist es auch eine Erlösung, wer weiß das schon? Und ganz Kluge werden zu berichten wissen, dass er in den letzten Jahren sehr unter seiner schlechten Gesundheit zu leiden hatte, kein Wunder, nach zwei Infarkten. Da ist das Leben ja irgendwann nicht mehr schön, werden Sie sagen und dabei weise und bedeutungsschwer die Köpfe wiegen.
Er war schon ein ganz besonderer Mensch, sagt dann einer. Das sagen sie immer, mein lieber Freund, das gehört sich so. Ein anderer wird anfügen, ja, er hatte große Erfolge in seinem Leben... Aber auch einige bittere Niederlagen, wird ein Dritter entgegnen und alle werden sich wissend anschauen.
Und dann zuletzt diese dauernden Schmerzen, wird eine mitleidige Frau weinerlich mit einem Seufzen hinzufügen.
Dann, mein lieber und bester Freund, mein treuer Begleiter in allen schweren und den schönen Jahren, dann möchte ich, dass du aufspringst und die Hand hebst, damit alle zum Schweigen gebracht werden. Und dann, dann sagst du es ihnen, laut und deutlich, damit es ihnen für immer im Gedächtnis bleibt:
Er hat gelebt! Und er hat immer und dennoch gern gelebt!
Und dann, mein Guter, dann soll Wein auf den Tisch und Musik soll gespielt werden, weil ja nur ich tot bin, eingegangen in die ewige Ruhe. Ihr aber lebt noch und das Leben soll gefeiert werden – dennoch!

Foto: Stephanie Hofschlaeger / piexelio.de

Mittwoch, 26. November 2014

Die Poesie des Schrecklichen

Der Name Rosa Parks ist über die Jahre etwas in Vergessenheit geraten, fragt man jüngere Menschen, so können sie ihn nur noch selten einordnen. Menschen meines Alters verbinden mit diesem Namen schon eher genauere Erinnerungen an den Beginn der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Rosa Parks wurde im Dezember 1955 in Montgomery, Alabama verhaftet, weil sie sich weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen.
.

Dies löste den Montgomery Bus Boykott aus, der als Anfang der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gilt, die das Ende der sogenannten Jim-Crow-Gesetze herbeiführte. In der Folge kam es zu landesweiten Protestmärschen, das Lied „We shall overcome“ wurde zur Hymne aller friedlichen Demonstranten, die sich trotz massiver Angriffe durch die Polizei, zahlloser Verhaftungen und auch Todesfälle, nicht davon abhalten ließen, an ihrem gewaltlosen Protest festzuhalten und beharrlich für die gesetzliche Gleichbehandlung schwarzer wie weißer Bürger der USA einzutreten.
Wer hätte nicht schon von ihr gehört, dieser legendären „I have a dream“ Rede von Martin Luther King? Je schlimmer die Gegenmaßnahmen der Politik und Polizei wurden, um so standfester beharrten er und viele seiner Mitstreiter darauf, dass Gewaltlosigkeit und das solidarische Zusammenstehen der einzig wirksame und sinnvolle Weg sei, ihre Ziele zu erreichen, die man unter der Überschrift „Alle Menschen sind frei und gleich geboren“ zusammenfassen könnte.
Es gab schreckliche Zusammenstöße, Bilder von gelynchten, erschossenen, niedergeknüppelten, verletzten und blutenden Menschen. Und dennoch wurde so viel erreicht, nahm eine Bewegung ihren Anfang, die am Ende die lange überfällige Gleichstellung aller Rassen vor dem Gesetz zur Folge hatte. Und in all dem Schrecklichen lag eine Poesie, die den Traum einer besseren Welt beschrieb. Die Worte dazu schrieben verängstigte, unterdrückte und unter Ungerechtigkeiten leidende Menschen, die einander die Hand gaben und gemeinsam die Stärke gewannen, um zu widerstehen und auf ihrem Recht zu bestehen.
Nun ist heute Ferguson in aller Munde. Die Todesschüsse eines weißen Polizisten auf einen schwarzen Jugendlichen bewegen die Gemüter. Die Entscheidung der Anklagekammer, gegen den Schützen kein Ermittlungs- bzw. Strafverfahren zu eröffnen findet weltweite Resonanz in schadenfroher Bestätigung, entsetzter Empörung und, was mir der einzig gangbare Weg scheint, sachlicher Akzeptanz.
Der Kolumnist der NZZ bemerkt dazu einige grundsätzliche Dinge, die m.E. Beachtung finden sollten:
„Dass 150 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei und sechs Jahre nach der Wahl des ersten nichtweißen Präsidenten noch immer tiefe ethnische Trennlinien durch die amerikanische Gesellschaft gehen, bestätigt sich in Ferguson einmal mehr. Schwarze und Weiße leben meist nicht nur physisch auf Distanz zueinander, in ethnisch segregierten Wohngebieten, sondern auch in anderen Vorstellungswelten.“
Das mag man beklagen, aber das zu ändern wird mehr benötigen, als zwei Amtszeiten eines „Nichtweißen“ Präsidenten. Auch die Tatsache, dass es in Fergusons Polizei faktischen keinen schwarzen Polizisten gibt, obwohl die afroamerikanischen Bürger einen beträchtlichen Teil der Stadtbevölkerung ausmachen, ist schlimm und muss verändert werden. Aber Veränderungen im Bewusstsein und Verhalten der Menschen erreicht man wohl kaum im Gerichtssaal. Die Notwendigkeit für Veränderungen aufzuzeigen und das Ungleichgewicht in der Behandlung der Bürger verschiedener Hautfarbe in Ferguson ins Bewusstsein der Bevölkerung zu rücken ist kein einmaliger Akt, der mit einem Einzelfall zu bewerkstelligen wäre. Dazu bedarf es des beharrlichen Willens zur Veränderung, nicht einer Hauruckaktion unter dem Druck aktueller Ereignisse. Ich zitiere noch einmal aus der NZZ:
„Doch von Anfang an erwies sich der Fall Michael Brown als schlecht geeignet, um daraus ein Paradebeispiel für polizeiliche Willkür zu konstruieren. Das Opfer war kein Unschuldslamm, das einfach wegen eines schrecklichen Zufalls ins Visier eines schießwütigen Ordnungshüters geriet. Obwohl manches zum Hergang widersprüchlich bleibt, ist auch einiges klar: Brown war in ein Handgemenge mit dem Polizisten verwickelt, leistete diesem Widerstand, versuchte zu flüchten und ging dann auf den Schützen in einer Weise zu, die als Angriff wirken konnte. Seine Gewaltbereitschaft hatte Brown kurz zuvor bei einem Raubüberfall gezeigt. Wenn trotz diesen Umständen gemäß der erwähnten Umfrage 70 Prozent der Afroamerikaner eine Anklage gegen den Polizisten forderten, ist das auch nicht gerade ein Zeichen von Unvoreingenommenheit.“
Die Entscheidung der Anklagekammer mag man für fragwürdig halten, aber sie entspricht den Vorschriften des amerikanischen Rechtssystems. Neun von zwölf Geschworenen müssen einer Anklage zustimmen; es reicht also, dass vier Jury-Mitglieder der Version von Notwehr Glauben schenken, damit ein Gerichtsprozess unterbleibt. Die Kammer hat ihre Entscheidung auf der Grundlage der vorliegenden Untersuchungsergebnisse, in der Hauptsache Zeugenaussagen und des Obduktionsberichtes getroffen. Es mag durchaus sein, dass acht Kammermitglieder eine Anklage für notwendig und richtig hielten, formal war jedoch die Abweisung rechtens.
Wenn kurz nach der Entscheidung der Jury der Stiefvater des Opfers allerdings zu Brandstiftungen aufruft, wenn gewaltbereite, empörte Bürger und alle, die auf dieser Flamme ihr eigenes Süppchen kochen wollten, dann aber marodierend, plündernd und brandschatzend durch die Stadt ziehen, dann ist das in keiner Weise zu rechtfertigen. Weder formal, noch moralisch oder in sonst einer denkbaren Weise. Politische Scharfmacher nutzten die Gelegenheiten, ihre Interessen zu verfolgen, Oppositionskandidaten sahen eine Chance zur besseren Positionierung und mitten in dieser Gemengelage, eine große Anzahl einfacher Krimineller und Krawallmacher, die für sich die Gunst der Stunde nutzten.
Schrecklich, diese Gewaltausbrüche, deren Ende noch nicht als sicher gelten kann. Schrecklich der Anlass, der einen jungen Menschen das Leben gekostet hat und schrecklich der Zustand eines politischen Systems und eines Rechtssystems, in denen Ungleichheit und Benachteiligung immer noch allzu leicht möglich und geduldet sind.
Aber in diesem Schrecken liegt keine „Poesie“ mehr, ist kein Wille erkennbar, die Welt auch an dieser Stelle zu einem besseren Ort zu machen. Nicht der Traum aufzustehen, aktiv zu werden, um Falsches und Schlechtes zum Besseren zu wenden, sondern einzig und allein Hass, Ablehnung, festsitzende Vorurteile auf allen Seiten und von Gier und Machtgier getriebener Egoismus bestimmen das Handeln.
Mich erschreckt das und ich frage mich, ob unserer Welt die Fähigkeit zur Poesie verloren gegangen ist. Gibt es Poesie, die ja immer auch die Mutter des Guten und Schönen war, nur noch in Worten, in kleinen Versen und Gedichten? Haben wir zwar noch schöne Melodien, Bilder und Worte, aber keine großen Träume mehr, für deren Verwirklichung wir bereit sind, alles zu geben und alles zu riskieren?

Dienstag, 4. November 2014

Die andere Dimension

Ich erschaffe eine neue Welt! Ja, Sie haben ganz richtig gelesen, nicht mehr und nicht weniger als eine komplett neue Welt werde ich erschaffen. Sie halten mich wahrscheinlich nach diesen beiden Sätzen schon für einen komplett überdrehten, esoterisch angehauchten Spinner, aber ich werde Ihnen beweisen, dass ich eine Welt erschaffen kann und diesen Schöpfungsvorgang mit entsprechenden Fotos dokumentieren.


  Hier ist sie nun, die neue Welt. Zunächst einmal noch dunkel und leer, aber das werde ich gleich ändern. Sie meinen, das sei doch einfach nur ein Blatt Papier? Wenn Sie so wollen, ist es das tatsächlich. Aber das ist natürlich auch kein Wunder, denn die Welt, die ich erschaffe, gestalte und bevölkere, ist eine zweidimensionale Welt.




Als ersten wichtigen Schritt, werde ich diese Welt nun ein wenig erhellen. Für meine zweidimensionale Welt reicht eine einfache Lampe ja schon aus. Die späteren Bewohner werden ohnehin niemals erfahren, woher das Licht kommt. Sie kennen nur vorne, hinten, links und rechts, ein oben oder unten existiert für sie nicht.




Damit meine neue Welt nicht einfach nur eine öde, weiße, vollkommen leere Fläche bleibt, werde ich sie nun verschönern und farbig gestalten. Aquarellfarben sind das Mittel meiner Wahl, wenn Sie allerdings selbst einmal Lust verspüren, eine eigene Welt zu kreieren, tun es sicher auch Buntstifte, Filzstifte, Deckfarben, Fingerfarben oder was Sie sonst so im Hause haben.




Jetzt ist der Moment gekommen, diese Welt zu bevölkern. Natürlich kommen für eine zweidimensionale Welt auch nur zweidimensionale Wesen in Betracht. Auf ihre Erschaffung richte ich mein Hauptaugenmerk. Ich werde große Wesen erschaffen (ich nenne sie der Einfachheit halber Flachländer), kleine, rote, gelbe, schwarze und weiße. Diese Flachländer werden künftig die neue Welt bewohnen. Damit Sie ein abwechslungsreiches Leben führen können, werde ich sie auch noch mit verschiedenen Fähigkeiten und Talenten ausstatten.



Nun werde ich sie zum Leben erwecken.


Wie? Sie meinen, das wäre geflunkert, denn in Wirklichkeit, bewegen sich diese Flachländer doch nur durch meine Kraft, die ich mit meinen Fingern auf sie übertrage? Richtig! Aber das wissen diese Flachländer doch nicht und werden es auch nie in Erfahrung bringen können. Sie werden vielleicht später allerlei Vermutungen über den Ursprung ihres Lebens und die Kraft, die sie belebt und in Bewegung hält, anstellen, aber da Ihnen jegliches Verständnis für den Einfluss aus einer anderen, höheren Dimension fehlt und sie aufgrund ihrer Begrenztheit auf Ihre zweidimensionale Welt, auch niemals wirkliches Wissen über die Vorgänge in einer anderen, höheren Dimension erlangen können, werden sie solche Vermutungen in den Bereich der Phantasie, der Einbildung und des Glaubens verweisen.


Um diese Flachländer trotzdem wissen zu lassen, dass es mich gibt, dass ich sie erschaffen habe und mich um sie kümmere, werde ich sie immer wieder einmal berühren - tröstend, streichelnd, zärtlich und sanft. Sie werden diese Berührung verspüren, aber da ein "oben" für sie nicht existiert, werden sie sich fragen, woher dies Gefühl, liebevoll berührt worden zu sein, wohl gekommen sein mag. Sie werden miteinander darüber  reden und einige werden auch diesen Kontakt in die Region von Einbildung, Phantasie, Wunschdenken oder Glauben schieben. "Ich habe niemanden gesehen!" werden sie sagen. "Weder vor oder hinter dir, noch neben dir! Was du gefühlt haben willst, ist absolut nicht beweisbar, nicht messbar und widerspricht allen physikalischen Grundlagen unserer Welt."
Diejenigen, die diese Berührung wahrgenommen haben und ihr eine Bedeutung beimessen, werden antworten: "Das ist keine Frage von Beweisen oder ein wissenschaftlich zu erklärendes Phänomen! Ich weiß einfach, dass es mehr gibt, als wir sehen können. Mehr als unsere Wissenschaft messen und erforschen kann, mehr als wir uns vorstellen können. Ich glaube daran, denn ich habe es gespürt und diese Berührung war anders und schöner, als alles, was ich je vorher erfahren habe!"

Man wird sie auslachen und ihnen sagen, dass man ihnen ihren Glauben ja nicht nehmen wolle, weil er ihnen offensichtlich wichtig sei und für sie eine Krücke sein könne, um das Leben zu bewältigen. Aber letztlich, so wird man ihnen vorhalten, gäbe es nun einmal nur links, rechts, vorn und hinten, das sei erforscht und bewiesen. Man wird kichern und gelegentlich ganz gern über sie spotten, über diese spinnerten Gläubigen, die entgegen jeglicher wissenschaftlichen Erkenntnis und entgegen jeglicher Einsicht eines "normalen Verstandes" an ihrer Überzeugung festhalten.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Gehören Sie auch zu den Menschen, die etwas für unmöglich, lächerlich und naiv halten, nur weil es in einer anderen Dimension stattfindet und von dieser anderen Dimension ausgeht, die unsere Dimensionen umschließt und hervorgebracht hat? Eine Dimension in der unser Ursprung liegt und aus der die Kraft kommt, die uns, unser Leben, unsere Welt, ja das ganze Universum erhält und bewegt! Dann sind Sie wahrscheinlich auch ein "Flachländer" für den es nichts geben kann, was über seinen eigenen begrenzten Erfahrungshorizont hinausgeht. Sie glauben, alles sei von selbst entstanden, sei erforscht, durchdacht, erfasst und berechnet. Wenn etwas Sie in Ihrem Innern berührt, dann ist das "psychisch" und die Kraft, die Sie am Leben und in Bewegung hält, ist ein biochemischer Vorgang, der elektrische Ströme erzeugt. Außerhalb alles Messbaren gibt es nichts!

Ich habe kein Problem mit solchen Gedanken und Erfahrungen. So wie es mir ein Leichtes war, eine zweidimensionale Welt zu erschaffen, sie zu bevölkern und alle meine Geschöpfe gleichzeitig im Blick zu behalten, mich um sie zu kümmern und sie "lebendig" zu erhalten, so übersteigt der Gedanke, dass der Ursprung all dessen was ist, in einer anderen, höheren, von uns nicht einsehbaren und nicht verstehbaren Dimension liegt, mein Vorstellungsvermögen keineswegs. Lachen Sie ruhig darüber, aber ich spüre sehr wohl, wenn mich etwas aus dieser anderen, höheren Wirklichkeit berührt, mich sanft und liebevoll daran erinnert, dass es mehr gibt als das, was wir sehen, messen und erfassen können.

Fotos: Eigene 11/2014

Freitag, 31. Oktober 2014

Traumzeit

Was wir wirklich sind und die Wirklichkeit, die wir leben, ist unsere psychische Wirklichkeit, die nichts anderes ist – und beachten Sie dieses erniedrigende “nichts anderes” – als die Tag und Nacht fortwirkende dichterische Phantasie. Wir leben wirklich in der Traumzeit, wir sind der Stoff, aus dem die Träume sind.
(James Hillmann, Hundert Jahre Psychotherapie – und der Welt gehts immer schlechter)
Was ist wirklich, was verlässlich und worauf können wir bauen? Unsere Erinnerungen sind es sicher nicht. Die Annahme, unsere Erinnerungen seien so etwas wie säuberlich abgelegte Daten in einem übersichtlich geordneten Aktenschrank, oder genaue Aufzeichnungen, wie die eines Videorecorders, aus denen wir die Vergangenheit jederzeit exakt abrufen können, ist längst widerlegt.
Jede Information die wir aufnehmen, sei sie beglückend oder dramatisch, ist begleitet von Bildern, Klängen, Gerüchen, physischen und psychischen Gefühlen und Eindrücken. All das findet seinen Platz an den verschiedensten Stellen in unserem Gehirn, wird verknüpft mit Erfahrungen, früheren Erinnerungen, Stimmungen und Körperempfindungen.

Das ist einer der Gründe, warum Erinnerungen unvermittelt und in den verschiedensten Situationen auftauchen, neu zusammengesetzt, mit anderen Schwerpunkten, aus anderen Blickwinkeln und in anderen emotionalen Zusammenhängen. Was auch immer unsere Erinnerungen sein mögen, verlässlich sind sie ganz sicher nicht. Das, was uns geformt, geprägt und zu dem hat werden lassen, der wir heute sind, ist ein trügerisch unsicherer Stoff. Unsere Erinnerungen müssen wir heute als rekonstruktiven Vorgang verstehen, in dem eine permanente kreative Verschmelzung von Dichtung und Wahrheit stattfindet.
Dieser Prozess unterliegt zudem verschiedenen Einflüssen, derer wir uns gar nicht bewusst sind. C.G. Jung schrieb allgemein über unser menschliches Denken:

Verstehen wir überhaupt je, was wir denken? Wir verstehen bloß jenes Denken, das nichts ist als eine Gleichung, aus der nie mehr herauskommt, als wir hineingesteckt haben. Das ist der Intellekt: Über ihn hinaus gibt es ein Denken in urtümlichen Bildern, in Symbolen, die älter sind als der historische Mensch, ihm seit Urzeiten angeboren und alle Generationen überdauernd, ewig lebendig die Untergründe unserer Seele erfüllend. Volles Leben ist nur in Übereinstimmung mit ihnen möglich. Weisheit ist Rückkehr zu ihnen. Es handelt sich in Wirklichkeit weder um Glauben noch um Wissen, sondern um die Übereinstimmung unseres Denkens mit den Urbildern unseres Unterbewussten, welche die unvorstellbaren Mütter jeden Gedankens sind, welchen auch immer unser Bewusstsein zu ergrübeln vermag.

In manchen Belangen stimme ich mit Jung nicht überein, allerdings zu dem Fazit, dass es eine Wirklichkeit jenseits unserer Wahrnehmung gibt, die uns berührt und unser Denken, Handeln, Fühlen und auch unser Erinnern beeinflusst, zu diesem Fazit kommen wir gemeinsam.
Die Existenz einer „geistlichen“, „spirituellen“ oder wie immer wir sie auch nennen wollen, Wirklichkeit ist nicht von der Hand zu weisen. Je mehr und tiefer wir jedoch eintauchen in das, was uns ausmacht, bewegt und beeinflusst, um so größer wird das Erschrecken darüber, dass nichts zwangsläufig so sein muss wie es uns erscheint. Erinnerungen sind eine kreative Mischung aus dem, was war und dem, was hätte sein können, oder was uns lieber gewesen wäre. Unser Denken, sobald es über den Horizont einer, wie Jung es nennt, Gleichung hinausgeht, unterliegt viel mehr Einflüssen und hat viel mehr Ursprünge, als es uns lieb sein kann und unsere Wahrnehmung zeigt uns immer nur unser ganz persönliches Bild dessen, was wir für die Wirklichkeit halten.
In einem Zeitalter, in dem unser Wissenshorizont breiter und unsere Erkenntnisse tiefer geworden sind als irgendwann zuvor, scheinen unsere Antworten auf die entscheidenden Fragen nach dem woher, wohin, warum und wozu, unsicherer und zweifelhafter als je in der zurückliegenden Zeit der menschlichen Geschichte.

Was bleibt also?
Für mich wird der Boden erst dadurch tragfähig, dass ich parallel zur Geschichte des Menschen und seiner Entwicklung die Geschichte Gottes mit den Menschen hinzunehme. Füge ich die Existenz Gottes als Fixpunkt, als unwiderlegbare Gegebenheit in meine „Gleichung“ ein, werden zwar nicht alle Fragen beantwortet, meine Erinnerung, mein Denken, Fühlen und Handeln werden nicht verstehbarer oder bis in Letzte erklärbar, aber das ist hinnehmbar. Ein Anker hält ein Schiff auf seiner Position, er verhindert nicht, dass es bei hohem Seegang schaukelt.
Letztlich wird mein Denken natürlich nicht vereinfacht, wenn ich die Existenz Gottes akzeptiere und in mein Denken einbeziehe. Die Akzeptanz der Existenz Gottes wirft - ganz im Gegenteil - noch viel mehr Fragen auf. Das Verstehen stößt an Grenzen und Zweifel sind Teil des Glaubens. Aber letztendlich bleibt mir als letzter Schluss und tröstliche Erkenntnis ein Satz, den vor 2000 Jahren die Nachfolger Christi geprägt haben:
Herr, zu wem sollten wir gehen? Nur du hast Worte, die ewiges Leben schenken.